Auch wer müde ist, kann nicht

immer schlafen

 

Warum können immer mehr Schweizerinnen und Schweizer nicht gut einschlafen? Wie kann man diese quälende Einschlafstörung beseitigen? Schlafmittel sind nur im Notfall zu empfehlen.

«Schlaf, Kindlein, schlaf?» Viele von uns wurden so oder ähnlich von unseren Eltern in den Schlaf gesungen. Was waren das für herrliche Zeiten: Die wippende Wiege, die Melodie einer Spieluhr oder ein Lied im Ohr, dazu den Lieblingsteddy im Arm - das war uns genug, den Schlaf des Gerechten zu finden und uns ins Reich der Träume zu befördern.

Das Bedürfnis nach Schlaf ändert sich im Laufe des Lebens: Der Säugling schläft etwa 16 Stunden am Tag, Kleinkinder immerhin noch 10 bis 12 Stunden, Schulkinder sollten je nach Alter 8 bis 10 Stunden zusammenbringen und die Erwachsenen kommen meist mit 6 bis 8 Stunden aus.

Napoleon vs. Einstein

Keine Regel ohne Ausnahme. Kriegsherr Napoleon Bonaparte, so berichten Chronisten, kam mit nur 4 Stunden Schlaf aus, der grosse Denker Albert Einstein hingegen habe sich beachtliche 12 Stunden gegönnt. Doch: Weniger zu schlafen, um mehr vom Leben zu haben, bringt nichts, denn bei weniger Schlaf ist unser Organismus nämlich auch entsprechend kürzer leistungs- und lebensfähig!
Doch viele Schweizerinnen und Schweizer können gar nicht mehr als der französische Kaiser schlafen, obschon sie gerne so lange in den Federn liegen würden wie der kluge Albert. Sie leiden unter Schlafstörungen. Rund die Hälfte aller Betroffenen wird durch ihre Schlafstörung krank. Eine Krankheit, die meist behandelt werden kann.

Jeder Fünfte leidet darunter

Immer mehr Menschen klagen über Schlafstörungen. In den letzten 25 Jahren hat sich ihre Zahl mehr als verdoppelt. Man schätzt, dass heute über 10 bis 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung darunter leiden. Viele können lange nicht einschlafen, andere haben das Gefühl, die ganze Nacht kein Auge geschlossen zu haben, wieder andere erwachen morgens um zwei und können nicht wieder einschlafen. Allzu viele glauben, das Übel mit Schlafmitteln beseitigen zu können, haben oft wenig Erfolg damit und laufen Gefahr, abhängig zu werden.

Um einschlafen zu können, muss man sich und die Aufgaben des Tages loslassen können; dazu braucht man das Vertrauen eines gesunden Säuglings. Wer voller emotioneller Spannungen ist, dem gelingt das nicht. Ärger, Angst, Schuldgefühle und Scham verunmöglichen die Entspannung. Grübelnd wälzen wir uns von einer Seite auf die andere.

Schlaf lässt sich nicht erzwingen

Wer einmal in den Teufelskreis der Schlafstörungen geraten ist, findet sehr schlecht wieder heraus. Wer Angst vor der Schlaflosigkeit hat, will sich zum Schlafen zwingen - und gerade das ist unmöglich. Besser ist es, sich zu sagen: «Na und, dann schlaf ich eben nicht. Dann les ich eben oder mach noch einen Spaziergang.» Das A und O des gesunden Schlafs ist das Vertrauen in den eigenen Körper: Er wird die Müdigkeit von selbst signalisieren, und das Schlafzentrum im Gehirn wird die Führung übernehmen.

Wer indes voll auf Schlafmittel setzt, bekämpft immer nur die Symptome. Die Gefahren sind vielfältig, vor allem aber droht sehr schnell eine Abhängigkeit. Die nachhaltige Heilung einer Schlafstörung braucht Geduld. Schlafstörungen sind meist psychosomatisch. Das heisst, auch seelische Komponenten spielen eine Rolle. Schlafmittel (Hypnotika) sind Stoffe, die den Menschen helfen, besser zu schlafen. Dabei gibt es fliessende Grenzen zu den Beruhigungsmitteln (Sedativa) einerseits und zu den eigentlichen Schlafmitteln andererseits. Die meisten Schlafmittel werden chemisch hergestellt. Es gibt aber auch natürlich vorkommende, pflanzliche Wirkstoffe z. B. aus dem Baldrian. Mittel, die den natürlichen Schlaf direkt bewirken, sind nicht bekannt.

Die heutigen Schlafmittel sind Medikamente, die gut wirken. Die sogenannten Benzodiazepine führen schnell zum ersehnten Schlaf. Die Gefahr besteht aber darin, dass sie den eigenen Schlafrhythmus schon nach kurzer Zeit nachhaltig beeinflussen. Die Folge davon: Um den Schlafrhythmus wieder zu erlangen, müssen häufig immer mehr und stärkere Medikamente eingenommen werden.

88 Gründe

Insgesamt hat die Forschung bisher 88 Gründe für Schlafstörungen ausgemacht. Sie reichen von Arbeits- und Familienstress über organische Ursachen wie Atemaussetzer in der Nacht oder ruhelose Beine bis zu äusseren Einflüssen wie Licht, Lärm oder Gerüche. Im Zentrum jeder Behandlung steht deshalb die Diagnose.

Unregelmässige Bettzeiten, zu wenig Bewegung, Alkohol, Kaffee oder üppiges Essen behindern den Schlaf. Nur mit gezielten Verhaltensänderungen bringe man solche Störungen weg. Manchmal sorgen auch Haustiere für Unruhe - oder aber der Partner. Ein grösseres Bett, getrennte Matratzen und zwei Bettdecken können bereits helfen. Der Schritt zu getrennten Schlafzimmern ist dann zu überlegen, wenn einer der Partner sehr laut schnarcht. Der Lärmpegel kann dem eines startenden Motorrads gleichkommen.

Alle 90 Minuten

Einen Drittel unseres Lebens verbringen wir schlafend. Die Schlafforschung hat entdeckt, dass wir dabei alles andere als passiv sind. Während der «normale» Tiefschlaf vor allem der körperlichen Regeneration zu dienen scheint, existiert daneben auch das Stadium des «paradoxen» Schlafs. Da sind wir zwar körperlich total entspannt, aber das Gehirn zeigt eine grosse Aktivität, und unsere Augen bewegen sich rasch unter den Lidern. In dieser Phase träumen wir, verarbeiten Konflikte und Eindrü-cke aus unserem Tagesleben. Sie scheint also für unser seelisches Gleichgewicht von grosser Bedeutung zu sein. Ungefähr alle 90 Minuten wiederholt sich die Abfolge von tiefem und paradoxem Schlaf.

Kommt hinzu, dass Schlafmangel in der Stressgesellschaft als chic gilt. Manager prahlen damit, nur gerade vier Stunden pro Nacht zu schlafen - und nicht einen Drittel ihres Lebens zu verschlafen. In einer Leistungsgesellschaft, in der aus wirtschaftlichen Gründen ein jeder am besten rund um die Uhr im Einsatz sein sollte, ist die Nachtruhe oftmals nur ein lästiges Übel. Was liesse sich in dieser Zeit nicht alles tun, wenn doch auf der anderen Hälfte des Erdballs das Leben weiterpulsiert? Ins gleiche Horn blies der deutsche Regisseur, Schauspieler und Autor Rainer Werner Fassbinder, als er formulierte: «Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.» Seit 1982 schläft er. Er starb im Alter von nur 37 Jahren. Vermutlich nutzen Säuglinge ihre Instinkte noch so direkt, dass sie dann schlafen, wenn sie müde sind.

Schlafmittel bekämpfen immer nur die Symptome.